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Nachhaltige Digitalisierung: ein Oxymoron

Widerspruch Nachhaltigkeit und Digitalisierung?

Digitalisierung und Nachhaltigkeit scheinen sich zu widersprechen. Ist das tatsächlich so oder lassen sich die Gegensätze vereinbaren? Wenn ja, wie? Viele Menschen stellen sich diese Frage. Denn die Verbindung von nachhaltig und digital ist hochkomplex, für jedes Dafür gibt es ein Dagegen. Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel, das Digitalisierung in der Arbeitswelt verdeutlicht: Fast jede und jeder kennt das folgende Szenario … 

Es tutet ein einziges Mal. Sofort nimmt eine elektronische Stimme den Anruf an und bittet aus den Optionen, die sie vorschlägt, auszuwählen. Dann liegt das Gespräch in der Warteschleife. Es dauert, die Minuten verstreichen. Schließlich ist ein Mitarbeiter an der Strippe. Endlich! Sie können Ihr Anliegen vorbringen – und hoffentlich hilft die Person am anderen Ende des (Headset-)Hörers weiter. Wenn Sie SDG-geübt sind, denken Sie vielleicht, Ziel Nummer 3, Gesundheit und Wohlergehen, wird strapaziert, weil Sie sich über Zeitverschwendung und Effizienzverlust ärgern. Anders gesagt, Zeit ist Geld, nur für wen? Für Sie oder für das Unternehmen? Für Sie beide:

„Ihre Verbindung wird gehalten“

Einer bezahlt (Zeit oder Geld oder beides), während der andere verdient (Zeit oder Geld oder beides). Eine Warteschleife am Telefon, womöglich noch kostenpflichtig, ist der falsche Ansatz für Digitalisierung. Das Versprechen, die Verbindung zu halten, wird nicht eingelöst. Das heißt, nur die digitale, nicht aber die emotionale. Das ist eines der zahlreichen Gegensatzpaare von Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Ganz abgesehen vom Kernproblem der Digitalisierung: dem Stromverbrauch. Ein Telefonat mag weniger ins Gewicht fallen, mehrere Internetrecherchen pro Tag schon: Der CO2-Fußabdruck des Internets beträgt jährlich mehrere 100 Millionen Tonnen. 

Zwei Seiten einer Medaille

Kennen Sie das noch? Früher haben die Mitarbeitenden an der Supermarktkasse den Preis eingetippt. Heute ziehen sie das Produkt über den Scanner. Das spart zwar Zeit, allerdings braucht es mehr Strom – bei der Geräteproduktion und im Gebrauch – und es stresst die Käufer. Supermärkte wie jedes Unternehmen wollen und müssen auf dem neuesten Stand sein. Aber mit jeder Problemlösung werden drei neue Probleme geschaffen. Wir verlagern und lösen nicht wirklich. Und damit nicht nachhaltig.

 

Während der Pandemie waren die meisten von uns gezwungen, im Homeoffice zu arbeiten. Das leistete einen positiven Beitrag zum CO2-Ausstoß, weil weniger Autoverkehr stattfand. Die Digitalisierung war ein Riesenvorteil, weil sie ermöglichte, dass Teams auch ohne räumliche Nähe miteinander weiterarbeiten konnten. Das zeigt, wenn wir mehr digitalisieren, dann können wir der Umwelt zuliebe mehr erreichen. Aber nicht grundsätzlich, wie das nächste Beispiel zeigt:

Vier-in-eins

Ein Smartphone ist eine Art Motorradauspuff, eine Vier-in-eins-Anlage. Es vereint mehrere Geräte in sich, ist nicht nur Telefon, sondern auch Taschenlampe, Kamera, Navigationsgerät, Bibliothek, Notizbuch etc. Ein visionärer Kopf hat aus mehreren Geräten eines gemacht. Dadurch haben wir Ressourcen eingespart, weil weniger Dinge hergestellt werden. Andererseits verpufft bei der Smartphone-Produktion eine immense Energie – rund 53 Prozent im gesamten Lebenszyklus eines Smartphones verschluckt allein die Herstellung. Die Endnutzenden verbrauchen dagegen nur 16 Prozent der Lebensdauer-Energie des Gerätes. Und: Die Hersteller sind gezwungen, effizientere, umweltfreundlichere Geräte zu produzieren, so dass sich in der Folge deren Lebensdauer verkürzt …

Die Katze und der Schwanz

Langfristig gesehen überschwemmen dadurch die Geräte den Markt und mehr Elektroschrott entsteht. 200 Millionen alte Handys liegen in den Schubladen der Bundesbürger. Darin enthalten seien ca. 10.000 Kilogramm Gold, das wiederum woanders eingesetzt werden könnte. Die Katze beißt sich in den Schwanz. Offiziell nennt sich das Rebound-Effekt. Und noch etwas:

 

Fast alle von uns besitzen inzwischen ein Mobiltelefon, ein Tablet, ein Laptop und einen Computer. Wir genießen den Komfort, den die Geräte bieten. Aber wir schaffen, wie erwähnt, fast mehr Probleme als wir lösen können. Der Datenverkehr auf mobilen Geräten verschlingt Energiesummen, am meisten entfällt davon auf Streamingdienste. Zugleich ist das Anschauen von Filmen im Netz sehr viel nachhaltiger, weil Produktion und Transport von DVDs wegfallen. Neue Geschäftsmodelle machen eine Ressourcenschonung daher durchaus möglich. Was nun?

Die dritte Seite der Medaille

Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind bereits miteinander verknüpft. Ein triviales Beispiel ist der Gebrauch von PDF anstatt Papier. Wir müssen folglich lernen, intelligent zu digitalisieren – durch kluge Innovationen. Innovative, digitale Produkte müssen mit der Absicht entworfen werden, einen effizienten Energieverbrauch und effizienten Nutzen zu erreichen. Unternehmen sollten beim Designen neuer Produkte auch schon deren Lebenszyklus analysieren – beispielsweise durch eine Lebenszyklusbewertung – und ehrlich entscheiden, ob und wie nachhaltig das Produkt wäre. Solche Unternehmen, die ehrlich auf dem Markt auftreten und ein echtes Interesse an nachhaltigen, digitalen Produkten zeigen, sollten belohnt werden. Denn:

System + Service = sozial

Digitale Systeme, die zu nachhaltigen Dienstleistungen oder Produkten führen, oder aus Produkten Dienstleistungen machen, sind sozial. Sie kommen der Umwelt zugute und uns Menschen. Wir können nicht endlos nach wirtschaftlichem Wachstum auf Kosten endlicher Ressourcen streben. Sharing Economy ist ein Ansatz, der zeigt, wie nachhaltige Gestaltung des digitalen Wandels funktionieren kann: Car-Sharing oder der Taxidienst Uber beweisen, dass eine Dienstleistung zugleich digital, umwelt- und sozialverträglich sein kann. 

 

Im Produktionsbereich lautet die Lösung, dass Unternehmen ihre Prozesse sorgfältig auf ihre Auswirkungen hin bewerten. Unternehmen können Kosten und Reibungsverluste einsparen, wenn sie den Weg finden, ökologische und soziale Probleme mit und durch Digitalisierung zu meistern. Und vor allem, wenn sie Innovationen, wie schon erwähnt, zuerst auf ihren Nachhaltigkeitswert hin prüfen und nur bei positivem Output weiterentwickeln.

Werte und Bewertung

Schlussendlich verändert die digitale Transformation den Energie- und Ressourcenverbrauch weltweit. Digitalisierung und Nachhaltigkeit dürfen kein Gegensatzpaar sein, nachhaltige Digitalisierung bzw. digitale Nachhaltigkeit sind möglich, aber sie müssen dem Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen dienen. Wir können das erreichen, indem wir alle, Unternehmen und Einzelpersonen, unser Wertesystem anders bewerten und uns ehrlich fragen: Was ist effizient, konsistent, suffizient? Was ist wirklich wichtig? Es liegt an uns. Oder wie der griechische Philosoph Sokrates sagte, als er in Athen über den Markt schritt: „Was gibt es doch für schöne Dinge, die ich nicht brauche.“ Zum Beispiel eine Telefonwarteschleife.