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Mit Reinhold Messner am Ortler

Mit Reinhold Messner am Ortler

Was hat der bekannteste Extrembergsteiger der Welt über Nachhaltigkeit zu sagen? Finden wir´s heraus. SQS hat Reinhold Messner am Ortler getroffen.

Er steigt aus dem anthrazitfarbenen E-Klasse Coupé an der Talstation in Sulden und ist sogleich von drei Menschen verstellt, die ihm etwas aushändigen. Wären sein Gesicht und seine Geschichte nicht weltweit bekannt, würde sein Charisma nur beiläufig auffallen: ein grauhaariger Mann, beige Jeans, ein kurzärmliges gelbes Hemd, dunkelgraue Jack-Wolfskin-Wanderschuhe und ein schwarzer Rucksack. Er geht die Steinstufen hinauf zur erhöhten Terrasse des Lärchenhofs und spricht mit dem Mikrofon in der Hand zu den Wanderlustigen über den Ablauf der nächsten fünf Stunden. Diane, seine Frau, steht neben ihm.

 

 

Messner entschuldigt sich für die Verspätung. Diane und er seien erst am Vortag aus Tibet, aus der Region Ngari im Gangdise-Gebirge, zurückgekommen, wo sie den Mount Kailash umrundeten. Der Kailash ist 6.714 Meter hoch, er gilt als heiliger Berg und darf nicht bestiegen werden. Er hat eine religiöse Bedeutung und Buddhisten sagen, wer ihn 108 Mal umrunde, erlange Erleuchtung. Um heute am Ortler sein zu können, haben sie schneller als gewöhnlich absteigen müssen, was anstregend ist. Der Jetlag wird nicht erwähnt, aber ist allen Anwesenden offensichtlich. Man ist glücklich, dass Reinhold Messner da ist.

 

 

Es ist 10:13 Uhr am Mittwoch, den 17. Juli 2024. Das Wetter hält. Im Verlauf der nächsten Stunden wandert Reinhold Messner den Weg zur Südtiroler Madritschhütte hinauf und mit ihm schnaufen um die 150 Hobbyalpinisten den schmalen, steilen Pfad über Stock und Stein und sogar zwei Schneefelder auf 2820 Meter Höhe. Eigentlich hätten Messners Yaks, tibetische Rinder, dabei sein und auf die Sommeralm getrieben werden sollen, aber sie sind schon oben. Zu viele Menschen beunruhigen sie.

 

 

Reinhold Messner am Ortler
Reinhold Messner und ca. 150 Wanderlustige steigen den Berg hinauf.

Kalipé, immer ruhigen Fußes

Messner grüßt und mahnt: „Gehen Sie langsam. Kalipé, immer ruhigen Fußes. Dann kommen Sie überall an.“ Die Messner-Fans haben für einen Tag ihren Alltag beiseite gelegt (wenn sie sich nicht bereits im Urlaub in Sulden oder Umgebung befinden) und ihr berufliches Leben als Illustrator, IT-Programmierer oder Familienmama für ihre Leidenschaft eingetauscht. Einmal Reinhold Messner ganz nah!

 

Die Bergwanderinnen und Bergwanderer müssen eine kurze Entscheidung treffen, die Menschen, die gerne in den Bergen sind, gut kennen: Spricht man den anderen an oder nicht? Spricht man Messner an oder nicht? Aber in den Bergen ist es ein bisschen wie beim Fußball: Man hat auch unter Unbekannten gleich ein gemeinsames Thema und kommt leicht ins Gespräch. Schlängelt man sich an Messner vorbei und hört einfach zu, was ER auf die Fragen anderer antwortet? Beobachtet man nur? Mit einem Gefühl zwischen Bewunderung, Ehrfurcht und noch zusammengesuchtem Mut? Macht man endlich das womöglich lang ersehnte gemeinsame Foto von Messner und sich selbst? Aber Posen sind (verständlicherweise) nicht erwünscht, das Selfie könnte mitten am Berg verwackeln? Oder wagt man es, ihn anzusprechen?

 

An jenem Mittwoch animiert Reinhold Messner jede und jeden, ihn und seine Frau Diane alles zu fragen, was man möchte. Und Fotos zu machen. Hunderte von Selfies entstehen so im Vorübergehen am Berg und auf der Madritschhütte. Oben angekommen, setzen sich Reinhold und Diane an einen der groben Holztische auf der Sonnenterrasse und verhalten sich äußerst professionell: sie sind offen, zugewandt, geduldig und nehmen sich wirklich Zeit für alle, die ein Anliegen haben – die Warteschlange ist lange. Von Anhängerinnen und Anhängern mitgebrachte Bücher und Autogrammkarten (von Messners mitgebracht) werden signiert, sogar ein Geschenkkörbchen wird dem sympathischen Paar überreicht. Sie freuen sich.

Verzicht war die Voraussetzung für den Erfolg

In ihrer beider Buch „Sinnbilder“ (nicht abstrakte Bilder, sondern der Mensch, der Sinn bildet) geht es um Nachhaltigkeit. Es geht um „Verzicht als Inspiration für ein gelingendes Leben“, so der Untertitel. Reinhold Messner kennt sich mit Verzichten aus. Ihm war es 1975 mit Peter Habeler gelungen, einen Achttausender zum ersten Mal im Alpinstil (anstatt wie bisher im Expeditionsstil) zu besteigen: ohne Lager, ohne Fixseilketten, ohne Flaschensauerstoff. So konnten die beiden Bergsteiger die Nordwestwand des Gasherbrum I in nur drei Tagen durchschreiten, anstatt wie zuvor in Wochen. Der Verzicht auf bis dahin lebensnotwendig angesehenes Gepäck, das heißt die Reduktion auf das nur absolut Notwendige, ermöglichte den Erfolg. Und alle weiteren, die sich daran anschlossen.

 

Der Aufstieg am Berg ist auch eine Metapher für die nachhaltige Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft. „Verzicht ist nur sinnstiftend, wenn er freiwillig ist, er darf nicht aufgezwungen werden“, schreibt Messner. Freiwilligkeit – und Verantwortung – muss man üben. Wie das Gehen am Berg. Man muss einen Rhythmus finden: „trovare il ritmo“, sagen Alpinisten. Das Problem ist, dass „wir alle mehr über Nachhaltigkeit (reden), als wir dafür tun. Schon deshalb verändert sich so wenig“, mahnt der Südtiroler. Für ihn verhält es sich anders: „Man kann viel tun. Auch das Unmögliche“, sagt er in einem Interview mit RSI. Man muss etwas wagen. Aber woran fehlt es der Gesellschaft? Am Mut?

Den Rhythmus finden

„Ökologisch verträgliche Alternativen des Lebensstils lassen sich nicht mit moralischen Argumenten oder Verboten durchsetzen, sie wollen erklärt und verstanden werden.“ Es fehlt also an Wissen. Damit „Wissenschaft und Unternehmen nötige Technologien entwickeln (können)“ brauchen sie eine „breite gesellschaftliche Unterstützung“. Messner plädiert für „Upcycling, freiwilligen Verzicht, Wissen, nicht Protest, Erfindergeist, nicht Apathie, Hoffnung, nicht Schwarzmalerei liefern uns die geistige Energie, die uns mit den menschengemachten Umwelt- und Ressourcenproblemen wenigstens teilweise zurechtkommen lassen wird.“


Reinhold Messner ist nicht nur Bergsteiger, er ist Sinnbilder, Abenteurer und Storyteller. „Parallel zu meinen Abenteuern habe ich die Geschichten dazu erzählt.“ Durch seine Geschichten möchte er sein Wissen weitergeben und Menschen weltweit inspirieren. Messner war als Parteiloser im Europäischen Parlament und setzt sich für Umweltschutz ein. Er möchte zur Genügsamkeit animieren, zum eigenen Nachdenken über den Unterschied zwischen nutzlos und sinnlos, dabei zur Sinnsuche auffordern – und immer zu einem selbstbestimmten Leben. Im Buch „Sinnbilder“ zitieren Messners aus dem tibetischen Buddhismus: „Eine Wahrheit, die man von anderen lernt, hat keinen Wert; nur die Wahrheit ist wertvoll, lebendig und wirksam, die wir selbst entdecken!“ Auch nachhaltiges Handeln muss selbst entdeckt werden. „Die Welt ist ein schier unendlicher Raum von Möglichkeiten, auch Mitteln, um zu handeln.“


Nutzen wir sie.

 

 

SQS-Mitarbeiterin Antje Luz mit Blick aufs Ortlermassiv